H. Kanyar Becker (Hrsg.): Vergessene Frauen

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Titel
Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917-1948


Herausgeber
Kanyar Becker, Helena
Reihe
Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft (BBG) 182
Erschienen
Basel 2010: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
828 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Daniel Gerson, Institut für Geschichte / Archiv für Zeitgeschichte der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich / ETH

Kaum ein Thema der jüngeren Schweizer Geschichte hat in den letzten Jahren soviel wissenschaftliche und publizistische Aufmerksamkeit erfahren wie die Flüchtlingspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Trotz dieser Fülle an Forschung macht «Vergessene Frauen» deutlich, dass selbst nach dem umfassenden «Bergier»-Bericht zahlreiche Aspekte noch einer genaueren Analyse harren.

Der Sammelband vereinigt über ein Dutzend biographisch angelegte Beiträge zumeist jüngerer Historikerinnen und Historiker. Auch wenn der zeitliche Rahmen vom Ende des Ersten Weltkrieges bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg reicht, ist der Fokus doch eindeutig auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs gerichtet. Die Öffnung der Perspektive auf den Ersten Weltkrieg ermöglicht jedoch, den Blick auf die Anfänge der humanitären Kinderhilfe zu richten, und hilft damit auch, das spätere Engagement der porträtierten Frauen der Schweiz im Bereich Kinder- und Flüchtlingshilfe besser zu verstehen.

Im Ersten Weltkrieg wurden erstmals in grosser Zahl Kinder, die unter den Kriegsfolgen litten, in die Schweiz gebracht und dort für mehrere Wochen in Pflegefamilien unterbracht, wie Helena Kanyar-Becker in ihrem Porträt von Mathilde Paravicini beschreibt. Dies waren rein humanitäre Aktionen, mit denen Hilfswerke in der neutralen Schweiz ausländischen Kindern helfen konnten. Bereits in einem stark politisch gefärbten Kontext fand die Hilfe für aus Spanien nach Frankreich geflohene Frauen und Kinder 1938/39 statt. Diese Flüchtlinge wurden von den französischen Behörden unter meist erbärmlichen Bedingungen interniert. Hilfswerke bemühten sich, diese gerade für Frauen und Kinder unhaltbaren Zustände zu beheben. Im Beitrag von Michel Puéchavy über Ruth von Wild wird deutlich, dass einige zentrale Persönlichkeiten der Flüchtlingshilfe während des Zweiten Weltkrieges wie beispielsweise auch Elsbeth Kasser im Rahmen der 1938 gegründeten «Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder» ihr humanitäres Engagement begannen.

Bereits wenige Monate nach Beginn der Internierung der spanischen Flüchtlinge hielt die französische Regierung auch jüdische Flüchtlinge in denselben südfranzösischen Lagern fest. Damit waren die Schweizer Betreuerinnen erstmals mit «rassisch» verfolgten Juden konfrontiert, die zunächst von Frankreich diskriminiert und dann durch die deutsche Besatzungsmacht verfolgt wurden. Das Engagement von Schweizerinnen bei der Betreuung und schliesslich bei der Rettung jüdischer Menschen vor dem Zugriff der deutschen Mörder und ihrer französischen Kollaborateure bildet inhaltlich den Kern des Sammelbandes.

Es ist ein grosses Verdienst dieser Publikation, dass es gelingt festzuhalten, wie Frauen sehr unterschiedlicher Herkunft und politischer Ausrichtung über ihre «traditionelle» Rolle als Krankenschwester oder Heimleiterin in entscheidenden existenziellen Momenten hinauswuchsen. Sie trotzten den Anweisungen ihrer ängstlichen männlichen Vorgesetzten in der sicheren Schweiz und missachteten auch die antisemitischen Richtlinien der Schweizer Behörden bezüglich jüdischer Flüchtlinge. Sie trafen allein oder im kleinen Kreis ethisch-moralische Entscheidungen, die hunderten von Juden und Jüdinnen das Leben retteten.

Das menschlich herausragende Wirken dieser Frauen wird in den meisten Beiträgen meist deskriptiv behandelt. Der Leser wünscht sich manchmal eine personenübergreifende Analyse und Fragestellung. So ist auffällig, dass die soziale Herkunft breit gefächert ist. Eine protestantische Herkunft ist jedoch fast allen Frauen eigen. Weshalb finden sich kaum katholische Frauen in diesem Kontext? Welche Bedeutung hat die Kategorie Frau für ihr Wirken? Erlebten manche der «Heldinnen» ihr autonomes Wirkungsfeld im besetzten Frankreich vielleicht auch als Chance für eine selbst bestimmte Tätigkeit, die in ihnen aussergewöhnliche Kapazitäten weckte? Dies alles wären wichtige Fragen, die einer weiteren Forschung bedürfen. Der vorliegende Sammelband ist auf Grund der so vielfältigen Biographien, die alle sorgfältig recherchiert sind, eine ideale Grundlage um solche Überlegungen weiter zu führen.

Im Kontext der Forschung zur Rettung verfolgter Juden während des Zweiten Weltkrieges geben die Porträts einen guten Einblick in die Dramatik der Ereignisse im besetzten Frankreich zwischen 1942 und 1944. Es ist eindrücklich zu sehen, wie klar diese Schweizerinnen die Deportationen als tödliche Bedrohung wahrnahmen und diese Erkenntnis auch an Instanzen in der Schweiz vermittelten, die jedoch zumeist abwehrend reagierten. Die Verzweiflung von Elsbeth Kasser bei der Deportation von betreuten Kindern, eindrücklich geschildert im Beitrag von Theres Schmid-Ackeret, macht auch deutlich, dass zwar die Rettung einiger Verfolgter gelang, dass jedoch der antisemitische Wahn Nazideutschlands und Vichy-Frankreichs für zehntausende von Juden und Jüdinnen den gewaltsamen Tod bedeutete.

Die einzelnen Biographien übergreifend wird ein Netzwerk mutiger Frauen und Männer sichtbar, die in Heimen in Frankreich jüdische Kinder vor ihren Häschern versteckten und auf abenteuerlichen Schmuggelpfaden Männer, Frauen und Kinder in die Schweiz brachten. Die Zusammenarbeit protestantischer Milieus und jüdischer Widerstandsorganisationen sollte noch weiter erforscht werden.

Eindrücklich ist auch der Beitrag von Margot Wicki-Schwarzschild über Elsa Ruth, der die Autorin selbst ihr Überleben verdankt. Elsa Ruth rettete Juden vor der Deportation während ihr Onkel Max Ruth als Chefbeamter der Fremdenpolizei Verantwortung für die judenfeindliche Flüchtlingspolitik der Eidgenossenschaft trug. Der Gegensatz zwischen dem humanitären Engagement zahlreicher SchweizerInnen und einer antisemitisch verblendeten Flüchtlingspolitik ist hier am Beispiel einer einzigen Familie deutlich greifbar.

Nach Ende des Krieges bestanden weiterhin Kontakte zwischen den Retterinnen und den Geretteten, wie mehrere Beiträge belegen. In der Schweizer Gesellschaft waren der aussergewöhnliche Mut und die Zivilcourage dieser Frauen lange kein Thema. Die Frauen empfanden ihre Taten als selbstverständliche Pflicht, wie sie in verschiedenen Selbstzeugnissen betonen. Erst spät und teilweise nach ihrem Tode wurde ihr Engagement gewürdigt. Israel verlieh vielen von ihnen den Ehrentitel «Gerechte unter den Völkern». Ins öffentliche Bewusstsein gelangte das Wirken einzelner Frauen wie Elsbeth Kasser oder Friedel Bohny-Reiter erst in den letzten Jahren, im Kontext der Auseinandersetzung Schweiz–Zweiter Weltkrieg.

Der vorliegende Sammelband hat tatsächlich Schweizerinnen dem Vergessen entrissen, die als Beispiel dafür stehen, dass ethisch-moralisches Handeln auch unter schwierigsten politischen Bedingungen möglich und sogar erfolgreich sein konnte.,

Zitierweise:
Daniel Gerson: Rezension zu: Helena Kanyar-Becker (Hg.): Vergessene Frauen. Humanitäre Kinderhilfe und offizielle Flüchtlingspolitik 1917–1948. Basel, Schwabe Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 1, 2011, S. 132-134

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 1, 2011, S. 132-134

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